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Titel
Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz


Herausgeber
Ludi, Regula; Ruoss, Matthias; Schmitter, Leena
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 48,00
URL
von
Elisabeth Joris, freiberuflich

Gemeinhin gilt die Ölkrise von 1973 als Ausgangspunkt für die politische Durchsetzung neoliberaler Konzepte. Nun stellen Regula Ludi und Mathias Ruoss in ihrer höchst aufschlussreichen Einleitung zum vorliegenden Band die fundamentale Frage, ob sich diese Verknüpfung von Krise und Neoliberalismus wirklich eignet, um den Wandel der letzten Jahrzehnte zu analysieren und zu verstehen. Denn, so die Autorin und der Autor, Neoliberalismus in all seinen Spielarten erweist sich «gegenwärtig als ein äusserst schillerndes Phänomen, voller Widersprüche und Ambiguitäten»: positiv als Wahlfreiheit, negativ im Sinne von Freiheit als Nötigung, oder wie es im Titel heisst «Zwang zur Freiheit» – ein Oxymoron, schliessen sich die beiden Begriffe Zwang und Freiheit doch eigentlich gegenseitig aus.

Aus der Analyse von Ludi und Ruoss sind insbesondere drei Punkte hervorzuheben: Erstens beschreiben «Krisen» nicht einfach Tatsachen, sondern sind als Begriff immer diskursive Zuschreibungen, um eine Situation zu deuten und dienen somit der Sinnstiftung, um Wahrnehmungen einzuordnen. Die Art jedoch, wie mit dem Krisenbegriff Probleme definiert werden, lässt vorgeschlagene Lösungen als unumgänglich erscheinen oder ebnet das Terrain für drastische und schmerzhafte Massnahmen. Zweitens gehen die als neoliberal definierten Strategien zur Krisenbewältigung davon aus, dass es einen starken Staat braucht, um die gesamte Gesellschaft nach den Grundsätzen des Marktes zu organisieren. Obwohl immer von De-Regulierung gesprochen wird, bedingt ein solcher Umbau eine Re-Regulierung. Verpönt sind hingegen staatliche Interventionen, die den sozialen Ausgleich zum Ziel haben. Das Individuum wird verstanden als Unternehmer seiner selbst, was sowohl Selbststeuerung und das Eingehen von Risiken impliziert. Drittens geht es um die Frage, wie Menschen dazu kommen, den Markt als Modell ihres Handelns zu akzeptieren. Zeichen dieses Wandels sind neue soziale Praktiken wie die Definierung eines partizipativen Führungsstils und die Persönlichkeitsbildung im Personalbereich, die der unterschiedlichen Wertigkeit von Individuen und nicht der Gleichheitsidee verpflichtet sind, auch das Ranking, ebenso das Gender Mainstreaming und Diversity Management, die beide Machtverhältnisse verschleiern und der besseren Nutzung der menschlichen Ressourcen – der Human Resources – dienen. Diese sozialen Praktiken verweisen gleichzeitig auf die Verbindungen zwischen der Protestbewegung der 68er und den neoliberalen Tendenzen der 1970er und 1980er Jahre. Es handelt sich, so die Autorin und der Autor, «um eine kapitalistische Aneignung von Wertvorstellungen wie Flexibilität, Diversität, Autonomie und Verantwortung, die von der subkulturellen Systemkritik propagiert wurden». Den Individuen werden fortlaufend Anreize geboten, «Persönlichkeitsmerkmale, Körperideale und soziale Beziehungen mittels der Selbststeuerung, Selbstvermessung und Selbstregulierung neu zu formen».

Die Grundthese, dass sich das Krisenhafte und das Neue auf fruchtbare Weise verknüpfen lassen, verbindet die Forschungsbeiträge in diesem Band. Neuerungen, die mit dem Begriff des Neoliberalismus assoziiert werden, waren Bestandteil von Debatten zur Überwindung der Strukturprobleme: vom Ruf nach mehr Wettbewerb über die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Flexibilisierung in fast allen Lebensbereichen bis zur Lobeshymne auf die individuelle Freiheit und Verantwortung. In ihrer Gesamtheit vermitteln die Beiträge ein vielseitiges und differenziertes, zum Teil auch unerwartetes Bild der Anfänge des Neoliberalismus. Ausführlich kann hier nur auf eine Auswahl eingegangen werden.

In seinem Beitrag «Politik der Vermarktlichung. Das Krisenmanagement der Alusuisse nach dem Boom» diagnostiziert Leo Grob die Ausprägungen des Neoliberalismus in der Industrie insbesondere im zunehmenden Einfluss von branchenfremden Beratern, der Banken und der Finanzwirtschaft auf die Produktionsbetriebe. Das Kredo der Alusuisse-Manager dieser Jahrzehnte lautete, dass auf eine neue Unternehmensstrategie eine Reorganisation der Unternehmensstruktur zu folgen habe, gemäss der von McKinsey vertretenen Regel «structure follows strategy». Um einzelne Betriebe zu rationalisieren, liessen sich die Manager von der Hayek Engineering AG beraten. So lokalisierte beispielsweise eine Studie aus dem Jahr 1984 ein jährliches Einsparpotential von 15 Millionen Franken bei den Walliser Werken, wovon beinahe die Hälfte auf Kosten des Personals ging. Zwischen 1980 und 1986 halbierte das Management die Zahl der Beschäftigten beinahe, von rund 45‘000 auf 24‘000. Aus Sicht der Banken reichten die Bemühungen des Managements allerdings nicht aus. So trat seit Beginn der 1990er Jahre die Figur des Investors in den managerialen Problemdefinitionen und Lösungsstrategien immer prominenter auf. Die Rentabilität hatte sich am Finanz- und Kapitalmarkt zu orientieren. Um das Unternehmen mit Geld zu versorgen, gaben Investorinnen und Investoren vor, welche Kennzahlen aussagekräftig waren.

Überraschend ist der Beitrag von Juri Auderset und Peter Moser zu agrarpolitischen Re-Regulierungen («Permanenz des Unbehagens»), denkt man doch beim Stichwort Neoliberalismus kaum an die Schweizer Landwirtschaft. Doch in der Landwirtschaft dominierte seit 1940 das Wachstumsparadigma. Dass dennoch der Produktionsprozess zyklisch bedingt und an Boden / Land gebunden ist – dieses Wissen wurde dabei weitgehend ignoriert. Vielmehr wurden in der Agrarökonomie die bäuerliche Landwirtschaft und die Ökologie als voneinander getrennte, monofunktionale Bereiche der Waren- und Güterherstellung auf der einen und der Landschaftsgestaltung und -erhaltung sowie der Produktion von Biodiversität auf der anderen Seite gedacht. Die Verfechter eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums deklarierten Ökologie zu einem «öffentlichen Gut», das nicht von Privaten nachgefragt, sondern politisch reguliert werden musste. Der Wandel hin zu neoliberalen Konzepten zeigte sich in der Leitung des Bundesamts für Landwirtschaft: Hans W. Popp, ein an der University of Chicago bei Milton Friedman promovierter Agrarökonom, der an der HSG studiert hatte und das Amt von 1962 bis 1995 leitete, kam dabei eine wichtige Rolle zu. Ab den 1960er Jahren wurden an der HSG laufend agrarpolitisch relevante Gutachten zuhanden des Bunds erarbeitet. Während in den 1950er Jahren in Gutachten noch die «volkswirtschaftlich optimale Nutzung des Schweizer Bodens» im Zentrum gestanden hatte, waren es nun die monetären «Kosten» und die «Effizienz» der Nahrungsmittelproduktion im Inland. In diesem Modelldenken war der Faktor, dass Land- und Viehwirtschaft die Landschaft über Jahrhunderte essentiell geprägt hatten und immer noch prägten, nicht vorgesehen. Die von umweltpolitischen Kreisen formulierte Kritik an der inländischen Wachstumslandwirtschaft wurde anfänglich noch mit dem Engagement für Biolandbau verbunden. Hingegen rückte die «neue» Umweltbewegung ab den 1970er Jahren den Widerstand gegen die Ausweitung des Einsatzes von Pestiziden und importierten Futtermitteln ins Zentrum ihrer agrarpolitischen Interventionen. Dies machte die Umweltbewegung nach Auderset und Moser auch für agrarökonomische Reformer interessant. Nach deren Logik wäre es nämlich «ökologischer », statt im Inland Nahrungsmittel zu produzieren, das «öffentliche Gut» Umwelt herzustellen. So wurden die durch die neuen Marktordnungen bedingten Einkommensverluste durch Direktzahlungen teilweise kompensiert. Das Resultat war nicht einfach «mehr Markt», sondern in erster Linie «mehr Staat».

Von Umdeutungen feministischer Begrifflichkeiten und Ansprüche handelt der Beitrag von Leena Schmitter zum Thema feministische Selbstbestimmung und neue Reproduktionstechnologien in den 1980er und 1990er Jahren. Mit den Parolen «Mein Bauch gehört mir» und «Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine» machten Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung und generelle Anerkennung als politische Subjekte öffentlich kund. Doch mit Fortschritten in der Reproduktionsmedizin, mit denen neuartige Formen der eugenischen Selektion einhergingen, wurde die emanzipatorische Dimension des Rechts auf Abtreibung in Frage gestellt. Denn die neuen Reproduktionsmöglichkeiten führten für Frauen zu zusätzlichen Wahlmöglichkeiten: das Recht auf ein Kind um jeden Preis zum einen, das Recht auf ein gesundes Kind zum anderen. Die zuerst von der Behindertenbewegung formulierte Kritik daran wurde von neuen feministischen NGOs wie Antigena oder Nogerete aufgenommen. Im Sinne einer Kosten-Nutzen-Logik würden sich schwangere Frauen durch vorgeburtliche Tests zu «Vollzieherinnen bevölkerungspolitischer Selektion» machen. Die neuen Möglichkeiten operierten mit dem verlockenden Angebot der Lebensoptimierung. Damit erfuhr die Forderung nach Selbstbestimmung eine radikale Umdeutung. Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg fielen so letztlich in die alleinige Verantwortung der betreffenden Subjekte. Das in den 1970er Jahren geforderte Recht auf Wahl mutierte in den 1980er Jahren zum Recht auf Auswahl. Diese «Freiheit durch Auswahl» beinhaltete ihrerseits einen neuen Entscheidungszwang.

Dass sich Frauenförderung und neoliberale Managementstrategien über Umdeutungen emanzipativer Anliegen für Unternehmen lohnen können, zeigt auch der Beitrag von Sarah Probst «Ein Geschäft mit der Gleichberechtigung?» zu dem in den 1980er Jahren lancierten Netzwerk «Taten statt Worte». Auf eine ähnliche Umdeutung verweist ebenfalls Brigitta Bernets Beitrag «Mitbestimmung oder Selbstverwirklichung?». Er verknüpft die von gewerkschaftlicher Seite um 1970 geforderte Mitbestimmung im Betrieb mit den neuen Managementtheorien des partizipativen Führungsstils oder teilautonomer Arbeitsgruppen. Die gegensätzlichen Interessen wurden dabei in eine neue Sprache übersetzt, die Konsens suggerierte. Unter dem Titel «Mehr Freiheit, weniger Staat» deutet Zoé Kergomard den Wahlslogan der Freisinnigen von 1978 als Ausdruck des Übergangs zu einer durch Marketingwissen vorangetriebenen Organisation der Politik. Die als politisch aktiv partizipierenden Bürger und Bürgerinnen wurden nun als Konsumenten und Konsumentinnen von Politik gedacht, deren Bedürfnisse es zu befriedigen galt. Als Folge dieser neoliberalen Offensive der FDP und des anschliessenden Aufstiegs der SVP setzte sich die Logik der zwischenparteilichen Konkurrenz und des «symbolischen Wettrüstens» – so Kergomard in ihrem Fazit – endgültig durch. Katharina Morawietz behandelt im Beitrag «Von urbanen Protestaktionen zur ländlichen Kooperative» die Entstehung der Kooperative Longo maï in den frühen 1970er Jahren und zeigt damit eine Alternative zur neoliberalen Umdeutung von mehr Autonomie und Selbstbestimmung, die sich weiterhin als gesellschaftskritisch verstand. Mathias Ruoss zeichnet im Beitrag «Selbstsorge statt gesellschaftliche Solidarität» die internationale Pionierrolle der Schweiz beim neoliberalen Umbau des Altersvorsorgesystems nach. Dieser Umbau begann damit, dass der Schweizer Sozialstaat in den 1970er Jahren unter Verweis auf demographische Daten in eine Krise hineindiagnostiziert und damit ein Konsens über Sachzwänge und Zukunftsvisionen hergestellt wurde. Nun wurde zum einen die Erhöhung des Rentenalters, zum anderen mehr individuelle Autonomie bei der Sicherung des Alters gefordert, zwei wesentlichen Bestimmungsmerkmalen neoliberaler Sozialpolitik. Daraus resultierte eine Verschiebung der sozialpolitischen Verantwortung für materielle Sicherheiten im Alter – weg von der gesellschaftlichen Solidarität hin zur individuellen Selbstsorge. Im Beitrag «Selbstregulierung 2.0» weist Lukas Tobler nach, dass sich der Schweizer Finanzplatz nach dem Chiasso-Skandal von 1977 von Einschränkungen lösen konnte. Denn im Abstimmungskampf um die im Gefolge dieses Skandals lancierte Bankeninitiative der SP Schweiz gelang es den Banken, sich als Vorkämpferinnen für die freiheitliche Schweiz und deren liberale Tradition darzustellen. Sie konnten in der Folge ihren Selbstregulierungsanspruch durchsetzen und bankpolitische Kernaspekte aus der politischen Entscheidungskompetenz auslagern. Im letzten Beitrag unter dem Titel «Widerstand im Wandel. Schweizer Arbeitslosenkomitees und der aktivierende Sozialstaat» verweist Anina Zahn auf die Ambivalenzen der sich Ende des 20. Jahrhunderts erfolgreich gegen Kürzungen wehrenden Arbeitslosenkomitees, zusammengefasst im Fazit: starker Widerstand gegen den sozialpolitischen «Abbau» zum einen und schwacher Widerstand gegen den «Umbau» zum andern. Erklärbar ist diese Ambivalenz der Arbeitslosen gegenüber Neuerungen – Stichwort RAV – mit der Hoffnung, dass Weiterbildungen und Beratungen die Stellensuche erleichtern könnten. So konnten auch hier aktivierungspolitische Diskurse einst widerständische Konzepte und Forderungen für neoliberale Modelle adaptieren. Eingliederung, Selbsthilfe und Aktivierung meinte nun die Aufforderung an das Individuum, Verantwortung für das Soziale zu übernehmen.

Der Sammelband füllt nicht nur eine wichtige Lücke in der historischen Forschung, sondern gibt einen wichtigen Einblick in die Entwicklung des politischen Diskurses. Die Beiträge zeigen klar, dass mit «Neoliberalismus» in Bezug auf ergriffene Massnahmen zwar soziale Ungleichheiten thematisiert werden konnten, der Begriff jedoch die Umgestaltung des Sozialstaats nicht erklärte. Damit leistet der Band einen exzellenten Beitrag zur Historisierung und Kontextualisierung des Begriffs «neoliberal».

Zitierweise:
Elisabeth Joris: Regula Ludi, Matthias Ruoss, Leena Schmitter (Hg.): Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz, Zürich: Chronos, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 490-494.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 490-494.

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